El Río de la Plata y el Centenario
Buenos Aires 1910-1930
Bearbeiter: Christian Wentzlaff-Eggebert und weitere Mitglieder des ASPLA
Am 25. November 2004 eröffneten der Dekan der Philosophischen Fakultät Professor Bernd Manuwald und Frau Professor Barbara Potthast, die Vorsitzende des Lehr- und Forschungszentrums für Lateinamerika, im Alten Senatssaal das erste vom LFZL veranstaltete Internationale Forschungskolloquium. Auf Initiative von Professor Christian Wentzlaff-Eggebert hatten sich 23 Historiker, Literatur- und Politikwissenschaftler aus Argentinien, Chile, Deutschland, Kolumbien, Mexiko, Spanien und den USA zusammengefunden, um zwei Tage lang in knappen Referaten über den Stand der Forschung zum Thema "El Río de la Plata y el Centenario. Buenos Aires 1910-1930" zu berichten und in ausführlichen, lebhaft geführten Diskussionen zu neuen Konzepten Stellung zu nehmen.
Es ging um die Voraussetzungen und Folgen von Entwicklungen, die in Argentinien zwischen 1910 und 1930 im Zusammenhang mit der Jahrhundertfeier der Mairevolution von 1810 und der auf diese folgenden Staatsgründung initiiert wurden. Massive Einwanderung und wirtschaftliche Prosperität hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Aufbruchsstimmung erzeugt, die traditionelle Strukturen bedrohte, eine Modernisierung der Gesellschaft erzwang und die Entstehung eines neuen kulturellen Selbstverständnisses begünstigte. Da die damals eingeleiteten Prozesse bis heute nachwirken, sich Argentinien andererseits anschickt, im Hinblick auf das in fünf Jahren zu begehende zweihundertjährige Jubiläum eine Bilanz des Erreichten aufzustellen, ohne dass die seinerzeit aufbrechenden Gegensätze in allen Punkten versöhnt wären, führten einzelne Beiträge bis in die ideologischen Auseinandersetzungen der Gegenwart hinein.
In seinem brillanten Eröffnungsvortrag beschäftigte sich der bekannte kolumbianische Literaturkritiker Rafael Gutiérrez Girardot (Bonn) mit Eduardo Mallea, seiner Historia de una pasión argentina sowie der Unangemessenheit späterer Urteile über diesen Autor und sein Werk. Er leitete damit über zu einer Reihe von Beiträgen in Köln tätiger Wissenschaftler (Inka Marter, Victoria Torres, Claudius Armbruster, Nelly Castro, Julia Gramberg de Mendoza, Andrea Kottow), die an Beispielen aus Argentinien, Uruguay, Brasilien, Kolumbien und Chile Interpretationen lyrischer und erzählender Texte der literarischen Moderne oder der Vanguardia, vor allem auch von Frauen, aus heutiger Sicht vorstellten, bevor durch Hubert Pöppel (Jena) und Liliana Massara (Tucumán) das aufblühende und einem Großstadtpublikum zugewandte Genus des Kriminalromans zur Sprache gebracht wurde. Grundsätzlichen Fragestellungen wandten sich anschließend Facundo Tomás (Valencia), Enrique Foffani (Rosario) und Harald Wentzlaff-Eggebert (Jena) mit Referaten über die Figur des Intellektuellen, die Entwicklung lyrischen Sprechens in Moderne und Postmoderne und die Charakteristika der Vanguardia zu. In einer von Wolfram Nitsch geleiteten Sitzung am Freitagnachmittag schließlich sprachen Rose Corral und Ana María Zubieta, die mit dem Colegio de México und der Universidad de Buenos Aires zwei der renommiertesten lateinamerikanischen Forschungsstätten vertraten, sowie Matei Chihaia und Kai Hoffmann (beide Köln) über Roberto Arlt und Jorge Luis Borges, zwei der nach Werk und Programmatik zentralen Autoren der zwanziger und dreißiger Jahre.
Im Gegensatz zu dem Eindruck, den diese knappe Aufzählung der Vorträge suggerieren könnte, hatte allerdings das Forschungskolloquium nicht ausschließlich die Literatur als solche zum Gegenstand. Schon am ersten Tag setzten der Eröffnungsvortrag und die Referate von Andrea Kottow, Victoria Torres und Nelly Castro die literarische Entwicklung in unterschiedlicher Weise zu ideologischen, sozialen und politischen Zusammenhängen in Beziehung, eine interdisziplinäre Vernetzung, die im Folgenden auch bei der Behandlung der Anfänge des Kriminalromans in Brasilien und Argentinien, der Figur des Intellektuellen oder mehreren der Beiträgen zu Borges und Arlt erkennbar wurde, wenn hier nach Konzepten von "Arbeit und Muße" oder der Rolle des Kinematographen bei Borges gefragt wurde. Im Anschluss an einen Vortrag über Karneval und Tango (Martin Traine; Köln) machte überdies eine leidenschaftliche Kontroverse zu Inhalt und Datierung von Dekreten über das Verbot von Volksfesten deutlich, wie unverzichtbar der Beitrag der Historiker zur Klärung des Faktischen und zur Fundamentierung des in der Literatur gespiegelten Bildes von der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung ist. Nach einem suggestiven Vortrag von Katharina Niemeyer (Köln) über die Topographie des literarischen Buenos Aires trat denn auch unter dem Vorsitz von Claudia Hammerschmidt (Jena) mit Referaten zur Haltung Argentiniens im ersten Weltkrieg (Holger M. Meding, Köln), zum Ringen des Landes um kulturelle Identität (Christian Wentzlaff-Eggebert, Köln) und zu den ideologischen Positionen und den politischen Zielen der Generation des Centenario (María Elisa Darmanin de Chaparro, Tucumán) die historische Perspektive eindeutig in den Vordergrund.
In den beiden letzten Vorträgen kam in einer subtilen Analyse eines zentralen Textes durch Silvia Gabriela Dapía (Purdue University) und den von genauer Kenntnis seiner Essays wie der argentinischen Volksliteratur getragenen Ausführungen von Olga Fernández Latour de Botas (Academia Nacional de la Historia, Buenos Aires) nochmals die Rede auf den in der Weltliteratur bewanderten "Sohn des Centenario" Jorge Luis de Borges und sein nicht leicht zu bestimmendes, aber enges Verhältnis zu den symbolischen Traditionen Argentiniens, das nicht zuletzt wegen des Stellenwerts dieses Autors als politischer Referenzpunkt in seiner Heimat immer wieder eine breite Öffentlichkeit beschäftigt hat und von vielen Intellektuellen noch heute sehr unterschiedlich beurteilt wird.
Die Kolloquiumsbeiträge werden in spanischer Sprache in einem Band der der Reihe FORUM IBEROAMERICANUM - Acta Coloniensia veröffentlicht.