Ringvorlesung Lateinamerika Sommersemester 2019
Seit vielen Jahren veranstalten das Zentrum Lateinamerika (CLAC) und der Arbeitskreis Spanien-Portugal-Lateinamerika (ASPLA) eine interdisziplinäre Ringvorlesung zu kultur-, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Themen mit Lateinamerikabezug. Die Vortragsreihe richtet sich an Studierende aller Fakultäten der Universität zu Köln, an Gasthörer*innen, Lehrer*innen und Schüler*innen sowie die interessierte Öffentlichkeit und umfasst Beiträge herausragender nationaler und internationaler Expert*innen verschiedener Fachbereiche.
Stadtplanung und -entwicklung in Lateinamerika
Die Planung des städtischen Raums spielte in Lateinamerika – einer seit der Kolonialzeit stark urbanisierten Region – stets eine wichtige Rolle. Dabei waren stadtplanerische Ansätze stets auch Ausdruck von übergeordneten politischen oder ästhetischen Programmen, Ideologien oder Reformvorhaben. Wurden während der Kolonialzeit städtebauliche Modelle v.a. aus Spanien übernommen, fungierten anschließend in den jungen lateinamerikanischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert vielfach weiterhin europäische Städte als Vorbilder.
Im 20. Jahrhundert begannen Stadtplaner*innen vielmehr das vermeintlich Spezifische lateinamerikanischer Städte hervorzuheben, das ihrer Ansicht auch eigene stadtplanerische Lösungen erforderte. Parallel dazu nahm der informelle Wohnungsbau und damit einhergehend die Aneignung von (Lebens-)Raum und die ungeplante Stadtentwicklung in den lateinamerikanischen Metropolen zu.
Die Ringvorlesung Lateinamerika wird sich im Sommersemester 2019 diesen Prozessen in der Stadtentwicklung widmen. Neben allgemeinen Vorträgen zur historischen Entwicklung verschiedener lateinamerikanischer Städte werden auch einzelne architektonische Trends sowie aktuelle Tendenzen des informellen Wohnungsbaus aufgezeigt.
Termine im Sommersemester 2019
Die Ringvorlesung findet donnerstags von 16.00 bis 17.30 Uhr in S 11 (Seminargebäude) statt.
Ausfälle: 04.04.2019, 02.05.2019, 30.05.2019 (Himmelfahrt), 13.06.2019 (Pfingsten), 20.06.2019 (Fronleichnam)
Programm
Einführung - Barbara Potthast (Köln)
"Landschaftswahrnehmung, Architektur und Städtebau in Buenos Aires zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert" - Antonio Carbone & Lucio Piccoli (Berlin)
Lucio Piccoli: Zwei Architektur- und Städtebau-Experten mitten in der Pampa: Die Besuche von Le Corbusier (1929) und Werner Hegemann (1931) in Argentinien
Am Ende der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts ist Buenos Aires bereits eine Weltmetropole, die unter den Problemen der urbanen Modernisierung leidet, genauso wie jede europäische Großstadt: rasches Wachstum, Verkehr- und Bevölkerungsverdichtung, mangelhafte Infrastruktur und Freiräume. In disem Zusammenhang, werden zwei international renommierte Figuren der Urbanistik eingeladen um ihre Diagnose zu stellen und entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Ganz anders jedoch als die tabula rasa, die sie für ihre Pläne und Visionen erwarten, ist die damalige urbane Kultur in Argentinien komplex und von diversen räumlichen Vorstellungen und politischen Interessen stark geprägt. Der Vortrag referiert die Art und Weise wie die zwei sehr unterschiedlichen Stadtwahrnehmungen von Le Corbusier und Hegemann an die vorherigen Debatten anküpfen und eine langfristige Wirkung auf die Architektur- und Stadtplanungsgeschichte Argentiniens ausüben.
Antonio Carbone: Zwischen Pampa und Stadt: die Frage der Fleischproduktion in Buenos Aires (1850er - 1870er)
1871 nach einer dramatischen Epidemie wurde die Fleisch- und Lederproduktion - die bis dahin eine extrem wichtige Rolle in der Ökonomie von Buenos Aires gespielt hatte - aus der Stadt verbannt. Der Vortrag rekonstruiert wie Ideen und Visionen von den Verbindungen zwischen Stadt, Pampa und atlantischen Markt diese Entscheidung beeinflussten.
"Urban development in the first half of the 20th century. Modernity and urban heritage in Cartagena de Indias" - Roos Stolker (Leiden)
The first part of the lecture covers the trends of urban development in the first half of the twentieth century in relation to the specific events that took place in the world and in Latin America specifically. The early decennia of the 20th century in Latin America were characterized by a movement to economic prosperity, even after the Great Crash in 1929. We’ll consider Latin American development by implementation of ISI (Import Substitution Industrialization) policies, which were pursued from the 1930s through the 1960s.
Modernism and Modernity in Latin America will be discussed in relation to the global trends in architecture and urbanism during that time, like the principles of CIAM (Congrès internationaux d'architecture moderne). The key effects of economic prosperity and industrialization will be covered on urban development, considering the cultural and economic interrelation between Europe, US and Latin America.
The second part of the lecture focusses on urban development of the colonial city in relation to modernity in Latin America. It illustrates the impact of modernity on the urban identity, and deals with how urban cultural heritage relates to the modernization of the city. Cartagena de Indias, declared as a World Heritage site and District of tourism and culture in Colombia, serves as an example. Tourism is considered to be an activity that comes from modernity in the beginning of the 20th century. The effects of tourism on the preservation of urban heritage and urban identity will be discussed as well, to better understand the contrasts between the historic and the modern city, and the spatial and social contrasts between the tourist - and the urbanized areas.
"Das Versprechen der Modernität. Internationalismen und die Reform der Stadt in Lateinamerika: Mexiko-City in den 1920er- und 1930er-Jahren" - Phillip Wagner (Halle)
Warum banden lateinamerikanische Stadtplaner internationale Netzwerke in ihre urbanen Reformprogramme ein? Warum, auf der anderen Seite, investierten die Organisatoren dieser Netzwerke Zeit und Geld, um in Lateinamerika für ihre Visionen der Stadtplanung zu werben? Der Vortrag untersucht diese Fragen am Beispiel von Mexiko-City und den Versuchen mexikanischer Planer europäisches und nordamerikanisches Wissen für ihre Zwecke zu mobilisieren. Es wird dabei nicht nur um die Zusammenarbeit mit Planern aus dem Umkreis der Congrès Internationaux d’Architecture Moderne oder des Bauhauses gehen, sondern auch um das viel weniger bekannte Netzwerk der International Federation for Housing and Town Planning. Dabei wird vor allem das Ziel sein, einen Beitrag zur Historisierung von urbaner und stadtplanerischer "Modernität" als einem zentralen, die Kontinente verbindenden Versprechen der 1920er- und 1930er-Jahre zu liefern.
"Brasília relativiert" - Alexander Fils (Düsseldorf)
Brasilia relativiert bedeutet eine Einordnung der neuen Hauptstadt Brasiliens in weit mehr als ein Dutzend weiterer Hauptstadtneugründungen des 20. Jahrhunderts. Die Stadtplanung von Lucio Costa für Brasilia gehört in den Vergleich was es an Alternativen für die Bundeshauptstadt gab und wie modern oder überholt der städtebauliche Entwurf war in Relation zur allgemeinen Stadtplanungsdiskussion der fünfziger Jahre; verkehrspolitische und geopolitische Fragen gehören dabei mit zum Themenkreis. Die Architektur, wesentlich von Oscar Niemeyer entworfen, muss ebenso im Vergleich zum weltweiten Geschehen der damaligen Zeit gesehen werden. Und der Erfolg oder von manch einem Kritiker auch als Misserfolg bezeichnet muss im Vergleich mit der Lebensqualität heute gesehen werden. Schließlich kann man der hypothetischen Frage nachgehen, ob es eine Stadtplanung für und von Demokratien gibt, geben kann und ob Brasilia dafür ein Beispiel ist.
"'Dwelling Resources in South America' - eine Revision der Thesen John F. C. Turners, der Selbstbaustadt und ihrer Herausforderungen der Gegenwart in Lima/Peru" - Kathrin Golda-Pongratz (Barcelona)
Der Vortrag gibt eine kurze Einführung in die non-formale Stadtentwicklung in Lateinamerika im Allgemeinen und leitet dann über auf die Stadt Lima, die Hauptstadt Perus, die aufgrund von politischen und auch klimatischen Bedingungen seit den sechziger Jahren zu einer Art Laboratorium des Selbstbaus und der "Stadtentwicklung von unten" wurde. Die wesentlich in Peru entwickelten Thesen und Schriften des britischen Architekten John F. C. Turner prägten den Stadtentwicklungs- und entwicklungspolitischen Diskurs im globalen Süden seit der Habitat-I-Konferenz 1976.
Basierend auf einer engen Zusammenarbeit mit Turner verankert der Vortrag dessen Thesen in der Gegenwart neu. Er zeichnet den Transformationsprozess beispielhafter Selbstbauviertel auf und beschreibt ein aktuelles Forschungs- und Dokumentarfilmprojekt der Erinnerungsaktivierung in Lima, das den Selbstbau und die Gemeinschaftsbildungsprozesse in Wert setzt und nach Methoden für ganzheitliche Entwicklungsperspektiven der Selbstbaustadt im Kontext mit ihrem Territorium sucht.
"Concrete Utopias? Die Architektur des (Neo-)Brutalismus in Europa und den Amerikas im 20. Jahrhundert" - Anke Ortlepp (Köln)
(Neo-)Brutalistische Architektur prägt seit der Nachkriegszeit das Bild vieler Städte auf beiden Seiten des Atlantiks. Zwischenzeitlich als ästhetisch wenig ansprechend verpönt, erlebt der Architekturstil derzeit eine neue Wertschätzung. Der Vortrag untersucht seine Bedeutung als Reformarchitektur und Form der Stadtplanung, die in ganz unterschiedlichen politischen, kulturellen, und wirtschaftlichen Kontexten wirkmächtig wurde. Dabei wird es um Fallstudien aus Großbritannien, den USA und Brasilien gehen.
"Alltagspraxis zwischen Regularisierung und Wohnungsmarkt am Beispiel der Villa 31 in Buenos Aires" - Sophie Naue (Hamburg)
Die Villa 31 gehört zu den ältesten informell gewachsenen Siedlungen in Buenos Aires, ihre Entstehungsgeschichte geht bis in die 1930er Jahre zurück. Während eine Vielzahl der Villas Miserias im Zuge der Militärdiktatur (1976 -1983) abgerissen oder an den südlichen Stadtrand umgesiedelt wurde, befindet sich die Villa 31 noch immer mitten im wohlhabenden Stadtzentrum und ist heute Lebensraum von mehr als 27.000 Menschen. Obwohl sich die Siedlung mit der Zeit sowohl in baulicher als auch sozialer Hinsicht an ihrem gegenwärtigen Standort konsolidiert hat, leben die Bewohner zum Teil noch immer unter prekären Wohnbedingungen und in rechtlich nicht abgesicherten Besitzverhältnissen. Denn die Lage der Siedlung hebt diese in das Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit und macht diese zu einem viel diskutierten Raum, um dessen Flächennutzung diverse politische und wirtschaftliche Interessenkonflikte bestehen.
Ausgehend von dem spezifischen Ort konzentriert sich der Vortrag auf zwei gegenwärtige Entwicklungen, zum einen wird die Etablierung eines städtisch initiierten Aufwertungsprozesses der Villa 31 untersucht, zum anderen fokussiert sich die Analyse auf die Entstehung eines parallel funktionierenden Wohnungsmarktes und die damit einhergehenden Veränderung der Wohnraumverteilung innerhalb der Siedlung. Im Vordergrund steht dabei die kritische Analyse der bislang wissenschaftlich nicht erforschten Themenfelder aus der Perspektive der Bewohner.
"Natur und Architektur. Zur künstlerischen Praxis von Nico Joana Weber" - Nico Joana Weber (Köln/Ludwigshafen)
Über mehrere Jahre hinweg hat sich die Künstlerin Nico Joana Weber mit dem Verhältnis zwischen tropischer Vegetation und Architektur in Südamerika beschäftigt.
Sie bereiste Argentinien, Bolivien, Peru und Brasilien und die Ergebnisse ihrer Aufenthalte flossen maßgeblich in die künstlerische Produktion der letzten Jahre ein.
Im Gespräch mit Barbara Posthast stellt sie ihren Film "Unstable Landscape" (2016) und ihr Buch "Monstera Deliciosa" (2018), sowie weitere, das Thema umkreisende Arbeiten vor.
www.nicojoanaweber.com
"Résumé: Stadtplanung in Lateinamerika im 20. Jahrhundert mit einem Fokus auf den 1960er und -70er Jahren" - Katharina Schembs (Köln)
Der Abschlussvortrag versteht sich als Versuch eines Résumés der Ringvorlesung. Er widmet sich insbesondere den 1960er und -70er Jahren, zu deren Beginn einige Wissenschaftler*innen überhaupt erst die „Produktionder lateinamerikanischen Stadt“ (Gorelik 2009) verorten. Damit spielen sie auf die mehr oder weniger starke Verortung Lateinamerikas in der „Dritten Welt“ und die damit verbundene größere stadtplanerische Eigenständigkeit an, für deren Beginn emblematisch die Konzeption der brasilianischen Hauptstadt steht. Im Zusammenhang mit Entwicklungstheorien, wie dem desarrollismo und der Dependenztheorie, maßen Planer*innen und Wissenschaftler*innen der Stadt eine zentrale Rolle bei: Nicht nur manifestierte sich in ihr die mangelnde Entwicklung. Sie wurde auch als Motor für den erhofften zukünftigen Fortschritt verstanden. Nachdem die 1960er Jahre im Zusammenspiel mit den aufstrebenden Sozialwissenschaften geradezu von einer Planungseuphorie gekennzeichnet waren, wurden gegen Ende des Folgejahrzehnts erste Stimmen der Ernüchterung laut, die die Planbarkeit von lateinamerikanischen Städten insgesamt in Frage stellten.