Ringvorlesung Lateinamerika Sommersemester 2023
Seit vielen Jahren veranstalten das Zentrum Lateinamerika (CLAC) und der Arbeitskreis Spanien-Portugal-Lateinamerika (ASPLA) eine interdisziplinäre Ringvorlesung zu kultur-, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Themen mit Lateinamerikabezug. Die Vortragsreihe richtet sich an Studierende aller Fakultäten der Universität zu Köln, an Gasthörer*innen, Lehrer*innen und Schüler*innen sowie die interessierte Öffentlichkeit und umfasst Beiträge herausragender nationaler und internationaler Expert*innen verschiedener Fachbereiche.
Antagonistische Allianzen in Lateinamerika - interdisziplinäre Perspektiven
Antagonistische Allianzen prägen Lateinamerika seit jeher. Denn einzelne Akteure und Akteursgruppen sind zunächst meist schwach und werden erst dann stark und erfolgreich, wenn sie sich mit anderen Akteuren und Akteursgruppen verbinden und Allianzen eingehen. Von der Expansion europäischer Kolonialmächte und der Landnahme indigener Territorien über die Abschaffung der Sklaverei bis hin zum Wahlerfolg des rechtsextremen Politikers Jair Bolsonaro – all diese Ereignisse, so unterschiedlich sie auch sind, wurden erst durch antagonistische Allianzen ermöglicht. Mittels bestimmter Techniken und Artefakte entstanden zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren spezifische Gruppierungen, die sich zu Netzwerken ausdehnten. Die Auswirkungen derartiger Allianzen in Lateinamerika sind vielfältig und manifestieren sich in der sozialen, politischen, ökologischen und ökonomischen Sphäre, aber auch im Bereich der Kultur und der Künste. Als spezifische Perspektive auf Lateinamerika ermöglicht das Konzept der antagonistischen Allianzen unterschiedliche Ereignisse in ihren komplexen Entwicklungen zu analysieren und diese trotz der Diversität der Phänomene zusammen zu denken und zugleich differenziert einzuordnen.
Ein besonderer Schwerpunkt der interdisziplinären Ringvorlesung liegt auf der Asymmetrie von Akteuren und deren Zusammenschluss in (heterogenen) Gemeinschaften, die durch entsprechende Machtverhältnisse geprägt sind. Neben Zugängen aus verschiedenen Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften (insbesondere Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft) präsentieren in der Ringvorlesung auch eine Autorin und ein Künstler ihre Werke, in denen antagonistische Allianzen über die Verhandlung von symbolischen Ordnungen bzw. von ästhetischen und sozialen Praktiken kritisch reflektiert werden.
Einige Sitzungen der Ringvorlesung werden auf Deutsch, andere auf Spanisch bzw. Englisch stattfinden. Ggf. wird es eine oder zwei Sitzungen auch auf Portugiesisch geben.
Termine im Sommersemester 2023
Die Ringvorlesung findet donnerstags von 16:00 Uhr bis 17:30 Uhr in Präsenz statt.
Programm
Einführung: Interdisziplinäre Perspektiven auf antagonistische Allianzen in Lateinamerika - Debora Gerstenberger und Peter W. Schulze (Universität zu Köln)
Transregionale Nord-Süd Netzwerke und Wissenstransfer: Zur Zirkulation lateinamerikanischer Dependencia-Ansätze in der Bundesrepublik Deutschland - Dr. Clara Ruvituso (Ibero-Amerikanisches Institut, Berlin)
In der Periode zwischen der Kubanischen Revolution 1959, der Unidad Popular in Chile (1970-1973) und dem Sieg der Sandinistas in Nicaragua 1979 erhielt Lateinamerika zunehmende internationale politische Aufmerksamkeit, woraufhin politische und sozialwissenschaftliche Ansätze aus Lateinamerika in Europa mit Fokus auf Dependencia (Abhängigkeit) und Liberación (Befreiung) zunehmend rezipiert wurden. Zwei kongruente Faktoren trieben diese bis dahin ungewöhnliche Wissenszirkulation von Süden nach Norden an: die Gründung akademischer und politischer Institutionen mit Schwerpunkt auf Lateinamerika und die damit verbundene Förderung der Mobilität des wissenschaftlichen Nachwuchses nach Lateinamerika, insbesondere Chile. In der BRD ging das Interesse an Lateinamerika im Rahmen der „Dritten Welt Solidarität“ von verschiedensten gesellschaftlichen Akteuren aus: von der Sozialdemokratie über die Kirchen bis hin zu antiimperialistischen Bewegungen. Im Vortrag wird auf die Nord-Süd Netzwerke eingegangen, welche zur vielfältigen Zirkulation der lateinamerikanischeren Dependencia-Ansätze in der BRD beitrugen. Die Macht- und Hegemonieverhältnisse der Wissenszirkulation zwischen Nord und Süd werden analysiert sowie die Frage erläutert, ob Asymmetrien in diesem Prozess produziert, beziehungsweise reproduziert werden, oder ob es sich dabei um eine Transformation dieser Strukturen handelt.
Por um Realismo Onírico: verdade e sujeito em “O manto da noite” - Carola Saavedra (Universität zu Köln)
Como retratar a realidade num mundo que parece cada vez mais irreal? Um mundo de pandemias, mudanças climáticas, guerras, e principalmente, a urgência que nos traz o Antropoceno. Será o realismo urbano, escolha que prevaleceu no Brasil nas últimas décadas, a melhor opção narrativa? Nesse sentido, o romance O manto da noite (Companhia das Letras, 2022) traz, tanto em sua estética quanto na temática, outras formas de pensar a realidade inspiradas no pensamento indígena em outras cosmologias, entre elas o sujeito expandido, que extrapola o conceito ocidentalizado de “eu” e inclui outras subjetividades, como animais, plantas, montanhas, e um olhar que vê nos sonhos, no transe, nos estados alterados de consciência o lugar da “verdade”.
„El aspecto más delicado”: Zivil-Militärische Co-Governance und Demokratisierung in Guatemala 1985–1991. - Fabian Bennewitz (Universität zu Köln)
Der Amtsantritt des christdemokratischen Präsidenten Vinicio Cerezo Arévalo am 14. Januar 1986 markierte nach Jahrzehnten der Militärherrschaft einen Wendepunkt in Guatemalas jüngster Geschichte. Wenngleich formal eine Zivilregierung die Geschicke Guatemalas lenkte, so behielt das Militär doch weitgehend die Kontrolle über die „Innere Sicherheit“ des Bürgerkriegslandes und fungierte außerhalb der Städte oft als einzige staatliche Instanz.
Die sogenannte demokratische Öffnung Guatemalas – de facto ein System der „zivil-militärischen Co-Governance“ – beruhte weder auf dem guten Willen der letzten Militärjunta, noch war sie von demokratischen Kräften erkämpft worden. Vielmehr handelte es sich um eine antagonistische Allianz von Akteuren, die nicht (mehr) stark genug waren, um die eigenen Interessen ohne Kooperationspartner durchzusetzen. Während die Militärführung erkannt hatte, dass die jahrzehntelange Aufstandsbekämpfung ohne demokratische Rahmen auch aufgrund der (internationalen) Isolation der Streitkräfte zum Scheitern verurteilt war, brauchte die guatemaltekische Christdemokratie eine Rückversicherung gegenüber antikommunistischen Hardlinern in Militär und Wirtschaftsoligarchie. Das Eingehen einer antagonistischen Allianz schien vor diesem Hintergrund am besten geeignet, um die jeweiligen Ziele der ungewöhnlichen Partner (Aufstandsbekämpfung und Erhalt des Einflusses im Sicherheitssektor bzw. Demokratisierung des Landes bei moderaten Sozialreformen) zu erreichen.
Der Vortrag analysiert die ständigen Aushandlungsprozesse und „roten Linien“ dieser antagonistischen Allianz, skizziert die Handlungsspielräume der beteiligten Akteure und zeigt, dass sich das schwierige Verhältnis der politischen Zweckgemeinschaft entscheidend auf die Reformagenda und die internationalen Beziehungen Guatemalas ab 1986 auswirkten.
"Makunaimã é nosso primeiro escritor: notas sobre a Literatura Indígena Contemporânea" | "Makunaimã ist unser erster Schriftsteller: Anmerkungen zur zeitgenössischen indigenen Literatur” - Dr. Julie Trudruá Dorrico (Universidade Federal de Roraima) (Portugiesisch)
"Contracolonizando a individualidade do ofício do autor, esta palestra busca discutir as
fronteiras entre o individual e coletivo na literatura de autoria indígena contemporânea
das netas e netos de Makunaimã." | "Dieser Vortrag versucht, die Grenzen zwischen dem Individuum und dem Kollektiv in der
zeitgenössischen indigenen Literatur der Enkelinnen und Enkel des Makunaimã zu erörtern,
indem er die Individualität des schriftstellerischen Handwerks kontrakolonisiert."
„Gift and Countergift – an experimental dialogue between art and science“ - Nuno Ramos & Peter W. Schulze (São Paulo & Universität zu Köln)
The Brazilian artist and author Nuno Ramos and the scholar Peter W. Schulze will reflect upon the ongoing appeal of Marcel Mauss’s Essai sur le don, drawing on theories of the gift and, inspired by them, intend to establish a performative practice of the gift through dialogue between the humanities and the arts. In their interdisciplinary project, the collaboration between artists and researchers is itself understood as an exchange of gifts producing a “mélange” (to use a key concept of Mauss’s theory), a mutual inspiration beyond the traditional divide of theory/criticism and literary/artistic creation. This approach enables a perspective that “follows the actors” of the gift exchange instead of splitting art and scholarship into two separate realms, in which the latter can be nothing more than a critical meta-discourse with respect to artistic practice.
Currently, the Brazilian artist and writer Nuno Ramos is Senior Fellow at the Auerbach Institute for Advanced Studies. At the Auerbach Institute, Ramo develops his project on “Gift, Counter-Gift: An Experimental Dialogue Between the Humanities and the Arts” in cooperation with Peter W. Schulze, Director of the Portugiesisch-Brasilianisches Institut (PBI) at UzK.
Der Pakt mit dem Computer. Antagonistische Allianzen in Institutionen der staatlichen Sicherheit in Lateinamerika während des Kalten Krieges - Debora Gerstenberger (Universität zu Köln)
Heute ist die Allianz zwischen staatlicher Sicherheit und Computertechnik allzu selbstverständlich. Wer könnte sich beispielsweise einen Geheimdienst oder eine Streitkraft ohne digitale Ausstattung vorstellen? Die Allianz zwischen Computern und Sicherheitsinstitutionen ist indes weder natürlich noch ist sie geschichtslos. In Lateinamerika durchliefen Militär, Polizei und Geheimdienst ab den 1960er Jahren unterschiedliche Phasen der Computerisierung. Der Vortrag wird quellenbasiert Momente fokussieren, in denen erstmals Computertechnik in nationale Sicherheitssysteme in Argentinien und Brasilien eingeführt wurde. Es zeigt sich, dass der Computer zunächst keineswegs als nützliches Werkzeug, sondern als Eindringling und als Gefahr wahrgenommen wurde. Dennoch stellte es das erklärte Ziel der lateinamerikanischen Regierungen dar, den Computer zu einem Alliierten bei der Verteidigung der nationalen Sicherheit zu machen. Wie genau dieser Prozess verlief, welche Gegensätze überbrückt werden mussten und welche Transformationen dabei geschahen, wird Thema des Beitrags sein.
"Indigenous Land and Law in Contemporary Brazil: a plea for a minor jurisprudence" - Samuel Barbosa (Universidade de São Paulo)
Traditional ways of occupying space, such as indigenous territoriality, have entered into tension with the production of territory by the State, which overcodifies it by means of special legal regimes (e.g. property law). Indigenous land as a way of life is transformed into an asset and object of administrative control. This thesis of general scope will be developed for the case of Brazil in the historical conjuncture of the 20th century. The question that interests us is to know if law, beyond its function of overcodification, could be mobilised as a war machine to create alliances between indigenous and non-indigenous people, as a nomos for a cosmopolitics of counter-assimilation.
"Was kann queere Literatur? Von antagonistischen Allianzen im Kulturbetrieb am Beispiel tranarchistischer Texte aus Brasilien, Argentinien und Chile" - Janek Scholz (Universität zu Köln)
Die Vorlesung fragt nach dem Potential queerer Literatur und Kunst als subversives Moment innerhalb des globalen Kulturbetriebs. Anhand ausgewählter Protagonist*innen und Werke der brasilianischen, argentinischen und chilenischen queeren/nicht-binären Kulturproduktion soll zunächst der (tran)anarchistische Charakter dieser Texte und Bilder diskutiert werden. Dies umfasst einerseits beschriebene oder abgebildete körperliche Modifikationen, die an staatlichen Kontrollsystemen vorbei durchgeführt wurden und einen bewussten Bruch mit staatlicher Biopolitik markieren. Andererseits schließt dies auch das Schreiben als subversiven Akt mit ein, wobei in diesem Zusammenhang gefragt werden soll, ob die ausgewählten Texte formale Traditionen und Vermarktungskanäle tatsächlich anarchistisch unterwandern oder ob die Autor*innen letztlich doch gezwungen sind, antagonistische Allianzen einzugehen, um eine Sichtbarkeit ihrer persönlichen Positionierung / ihres Aktivismus‘ zu gewährleisten. Der Vortrag schließt mit einigen (auto-)kritischen Reflexionen des Referenten, der als cis-geschlechtlicher Wissenschaftler aus Europa zu trans-geschlechtlichen Texten aus Lateinamerika arbeitet und somit ebenfalls Teil einer komplexen Machtstruktur ist. Genauso wie der globale Kulturbetrieb muss sich letztlich auch die Wissenschaft stets aufs Neue selbstkritisch im Spiegel betrachten und fragen, wo die von ihr eingegangenen Bündnisse tatsächlich einen Nutzen bringen (und wem) und wo sie evtl. eher Schaden zufügen.
"Conflictos, alianzas y convivencias en el “hacer ciudad”. Reflexiones sobre el urbanismo subalterno en América Latina" - Prof. Dr. Ramiro Segura (Universidad Nacional de La Plata/Universidad Nacional de San Martín, Argentina) (Spanisch)
From the restricted theoretical geographies that dominant the urban studies (Robinson, 2002), the cities of the Global South, especially Latin American cities, have been characterized by their “excesses” (too big) and/or their “deficiencies” (too many problems) with respect to the parameters that supposedly characterize the urban experience of the Global North. However, since the foundation of the Spanish cities and the Jesuit missions as artifacts to order the colonial world to the urban planning as the engine of development and modernization during the 20th century, among other projects and politics, in Latin American thought the city has been linked to modernity (and its debates) in an even more direct way than in the case of European thought (Rama, 1984). Instead the normative and Eurocentric point of view about Latin American urbanism, for this presentation I recover a tradition of inquiries about Latin American cities that focused on the “cultural borders” (Romero, 1976) as tense and productive encounters between different and unequal groups in the urban space and I reflect on the asymmetric, conflictive and negotiated ways in which the subaltern sectors in Latin America "make the city" (Agier, 2015). Latin American cities are thought of as "cultural arenas" (Morse, 1982; Gorelik and Peixoto, 2016), socially unequal and culturally heterogeneous contexts in which encounters, dialogues and conflicts take place over the forms, meanings and uses of the city. I propose to follow the traces of "subaltern urbanism" (Roy, 2011), legible not only in the widespread self-production practices that constitute an omnipresent mark of the Latin American urban landscape, but also in a multiplicity of practices (fairs, street vendors, hip hop, saraus, graffiti, etc.) that in profoundly asymmetric contexts negotiate their presence in the city and often destabilize the hierarchical and racialized socio-spatial order that has characterized Latin American urban planning since colonial times.
Antagonistische Allianzen in Lateinamerika: Erkenntnisse und Ausblicke - Abschlussveranstaltung (Universität zu Köln)